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Feindbild Russland – Ein Erfahrungsbericht (ndDIE WOCHE, 02. April 2022, S. 10)

Feindbild Russland
Zwischen Fakten und Vorurteilen: Wie sich Stereotype verfestigen. Ein Erfahrungsbericht
Peter Porsch
Als ich im Oktober 1944 in einem Vorort von Wien geboren wurde, tobte noch der Zweite Weltkrieg. Ich erblickte in einem düsteren Luftschutzkeller das Licht der Welt. Vom Krieg bekam ich unmittelbar nichts mit. Das Inferno hielt nicht mehr lange an. Wohl aber weiß ich aus eigener Anschauung von den Folgen eines Krieges: verzweifelte Menschen, verwüstete Städte, Verletzungen aller Art, Hunger, Flüchtlinge, Soldatengräber in Parks, Ruinen und Bombentrichter als Spielstätten …
Es sollte eigentlich nur mehr ein Feindbild geben: das Feindbild Krieg. Und sein positives Äquivalent, die Sehnsucht nach Frieden. Manche Feindbilder blieben trotzdem, manche entstanden neu. Die siegreichen Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich verloren zumindest in Österreich fast übergangslos ihren feindlichen Nimbus; ihr Bild verwandelte sich in ein freundlich-erwartungsvolles von Befreiern. Die Sowjetunion dagegen blieb im Verein mit dem Feindbild Kommunismus, meist vereinfacht auf Russland reduziert, in der öffentlichen Meinung stark negativ bewertet. Alles, was hierzu der Nationalsozialismus an Vorurteilen aufgegriffen und hinzugefügt hatte, wirkte ziemlich ungebrochen weiter. Der Atombombenabwurf der USA in Hiroshima und Nagasaki wurde zwar deutlich kritisiert. Der Korea-Krieg gebar Losungen wie »Ami go home«. Die Kuba-Krise brachte die Angst vor einem Atomkrieg in Erinnerung. Der Vietnam-Krieg hatte eine Antikriegsbewegung zur Folge, die in der westeuropäischen Friedensbewegung und dem Protest gegen den so genannten Nato-Doppelbeschluss zur politischen Macht wurde.
Das alles lebte weiter, verlor jedoch immer wieder seine politische Kraft. Ein Übriges tat brutale russische Militärmacht in Berlin 1953, Budapest 1956, Prag 1968. Die Schlussakte von Helsinki 1975 darf als gelungener Ausgleich vernünftiger Politik auf allen Seiten mit friedlicher Perspektive allerdings auch nicht vergessen werden.
Alle aus dem Faschismus verbliebenen und von diesem aus früheren Zeiten übernommenen und zum Feindbild gegen Russ*innen und Russland gewordenen Vorurteile bekamen in der DDR immerhin eine Delle. Man kannte zu viele Russ*innen und Russland aus den persönlichen Begegnungen. Das wirkt heute noch bei Älteren nach, lässt aber dennoch zu, in einer Krisensituation ein Feindbild zu reaktivieren, das in der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzung deutlich und mehrheitlich Partei ergreifen lässt gegen Russland. Die in der DDR übliche Bezeichnung Freunde für Sowjetbürger*innen (meist verallgemeinernd als Russen verstanden) und ihre Armee hatte immer auch einen ironisch-distanzierten Unterton.
Eine stereotype Beurteilung von Völkern und ihrem Verhalten ist heute kaum noch konfliktfrei möglich. Verschwunden ist sie aber auch nicht. Wer es nicht glaubt, sei jetzt auf die vielfältigen Diskriminierungen von Russ*innen in Sport, Kunst und Kultur, in Schulen und im Alltag erinnert. Vielleicht, ja hoffentlich bleiben das Einzelfälle. Öffentlicher Protest gegen den Krieg in der Ukraine wird aber in den allermeisten Fällen zur Parteinahme für die Ukraine und gegen Russland. Natürlich hat das seine legale Ursache im völkerrechtswidrigen Vorgehen Putins, aber auch das Feindbild funktioniert. Zum Beispiel in der Zurückdrängung berechtigter Kritik an den Vorgehensweisen der USA und Westeuropas. Die Kritik am Krieg in Jugoslawien hatte noch mal Massencharakter. »Free Assange« hat nur geringes Echo. Guantanamo ist fast aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Man weiß aber sehr genau um Nawalny und die innerrussischen Unterdrückungsmaßnahmen.
Das Feindbild Russland hat eine unheilvolle Geschichte. Und seine Eigenheiten. In der Extra-Ausgabe des »Vorwärts« vom 4. August 1914 anlässlich der Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD war unter anderem zu lesen: »Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus, der sich mit dem Blut der besten des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt diese Gefahr abzuwehren.« Sicher entsprachen dieser Begründung Tatsachen. Sie führten ja auch zu Aufständen und schließlich zur Oktoberrevolution. Wenn sich die Charakterisierung der Zarenherrschaft zum Stereotyp eines Feindbildes verfestigt, wirkt es auch ungeprüft und ist auf alle folgenden autokratischen Herrschaftskonstellationen übertragbar. Lenin, Stalin, Breschnew, nun auch Putin werden nach diesem Modell undifferenziert dem gleichen Framing unterworfen.
Dem folgt die Aufnahme besonders rücksichtsloser russischer Kriegsführung ins Feindbild. Ein frühes Beispiel findet sich in dem 1914/15 erschienenen Jugendbuch »Der Kampf in Feindesland«. Das erste Kapitel trägt die Überschrift »Die russischen Hunnen«. Solche überfallen angeblich seit jeher friedliche Bauern. Russen und Hunnen treten in »Horden« auf und sind fremdrassig: »Jetzt konnte man schon die kleinen zottigen Pferde erkennen. Und nach einer kurzen Spanne auch die braunen Gestalten, die auf den Tieren wie festgegossen saßen. Die Gesichter waren von einer abschreckenden Hässlichkeit. Neben den platten Nasen blickten kleine, schwarze, stechende Schlitzaugen, die tief im Kopfe saßen … Entsetzen und Schrecken gingen vor diesen Horden her.«
Solche Bilder sind in identischerweise heute nicht mehr möglich. Die Bezeichnung Horden für die Russen im aktuellen Krieg fiel aber schon mehrfach. Das korrespondiert mit der ebenfalls stereotypen Annahme von der fremden russischen Kultur. In der Extra-Ausgabe des »Vorwärts« von 1914 heißt es, »die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes (sei) sicherzustellen«. Im Wiener Gymnasium wurde ich Ende der 50er Jahre im Geografieunterricht zum »Kulturgefälle von West nach Ost« belehrt.
Die Darstellung Russlands war schon lange auch die eines armen unattraktiven Landes. Davon profitierte die Systemauseinandersetzung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sozialistische Länder waren im Stereotyp zurückgeblieben, ohne gesellschaftlichen Wohlstand, geprägt von Versorgungslücken und Sehnsucht nach weniger alltäglicher Lebensmühe. Wiederum keine Lüge, aber in der Verfestigung im Feindbild hüben wie drüben wirksam. »Kommt die D-Mark, bleiben wir; kommt sie nicht, gehn wir zu ihr«, war die bekannte, aktivierende Losung 1989 in der DDR.
Der »deutschen Jugend« wurde 1914 das Schreckgespenst russischen Elends in »Der Kampf in Feindesland« deutlich vor Augen geführt: »Zwischen den kahlen Pappeln der Landstraße tauchte aus dem Nebel und Regen ein russisches Dorf auf. Schiefe kleine Lehmhütten, mit winzigen Fenstern, hinter denen keine Blume das hässliche Bild freundlicher gestaltete. Große Pfützen, schlammige Wege, verkrüppelte Birken, hier und da ein scheußlicher, bellender Köter und endlich auch ein paar schmutzig gekleidete und ebenso aussehende Menschen – so monoton zeigte sich ein russisches Dorf wie das andere.«
Gerade russische Dörfer werden heute noch in einer für Westeuropäer*innen ungewohnten, oft sympathischen Einfachheit, aber auch behäbiger Vorgestrigkeit gezeigt. Das Wohlstandsgefälle gegenüber dem Westen gehört zum Russland-Bild. Man stellt unbestreitbare Tatsachen fest und verfestigt zugleich das Stereotyp. Russland habe unter Putin »keinen wirklichen Modernisierungsschritt getan, im Gegenteil: Die eigene Wirtschaft ist global kaum wettbewerbsfähig, sie beruht auf weitgehend veralteter Technologie.« (Reiner Oschmann im nd-Artikel »Rendezvous mit Waterloo«, zitiert nach »Neue Zürcher Zeitung«). Man kann solchen Sätzen fehlenden Wahrheitsgehalt nicht vorwerfen. Dass sie aber geeignet sein können, zu Überheblichkeit auch im militärischen Umgang mit Russland zu verleiten, sollte man nicht übersehen.
Putin ist Gefangener eigener Vereinfachungen geworden. Er meinte wohl, der Weg seiner Soldaten nach Kiew sei so einfach wie 1968 der Weg nach Prag. Aber schon in Prag deutete sich wieder an, was die Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg zum Sieg führte. Die Rote Armee siegte mit starker Unterstützung von Partisan*innen, Ausdruck einer unmittelbaren Kampfbereitschaft im Volk. In Prag traten unbewaffnete Menschen Panzern in den Weg. 1989 wollten die Völker den erstarrten Sozialismus nicht mehr und stellten sich ihm weitgehend gewaltfrei entgegen. »Alle Völker dieser Erde sind älter, stärker, wichtiger als ihre Dynastien und Herrschaftssysteme«, schrieb Hubert Feichtelbauer 1988 in dem Band »Feindbilder«. Das gilt für jede historische Zielsetzung der Völker, nicht nur progressive. In der Ukraine tritt das Staatsvolk Putins Ambitionen (mit Unterstützung starker »Freunde«) entgegen.
Freilich passiert das in einer geopolitischen Konkurrenzsituation. Es ist tatsächlich Krieg, wenn auch ein asymmetrischer. Es geht deshalb derzeit um Sieg oder Niederlage einer Seite. Krieg löst nach allen historischen Erfahrungen jedoch keine Probleme, sondern schafft neue, wie lange es auch dauern mag, bis diese zum Ausbruch kommen. Mein Feindbild richtet sich also gegen den Krieg und seine Feldherren. Was man Russland mit Recht vorwirft, gehört zum Krieg. Die Wahrnehmung als russische Besonderheit ist dem Feindbild geschuldet. Die Welt schlägt sich mit Problemen herum, die aus der Aufteilung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg und der Veränderung dieser Aufteilung nach 1989 resultieren. Da bleibt Parteinahme für die eine oder andere Seite im Grunde historisch wenig sinnvoll, weil auch ein Sieg nicht nachhaltig wirkt.
Ich bin bei meinem Anfang. Die emotionalen Reaktionen auf den Krieg sind im Augenblick notwendig und verständlich. Unter imperialen kapitalistischen Konkurrenzbedingungen scheint nachhaltiger Frieden allerdings nicht erreichbar. Schon viele kluge Menschen haben festgestellt, der Kapitalismus trage den Krieg in sich. Ich bleibe daher auf der allein zukunftsträchtigen Seite, auf der Seite des Friedens, und fordere als Linker, den Kampf für Frieden immer mit dem Kampf für eine demokratisch-sozialistische Gesellschaftsperspektive zu verbinden.
Bundesausgabe vom Samstag, 2. April 2022, Seite 10 (5 Views)

Vom linken Sprechen mit der Klasse

Im Grunde ist es eine Binsenweisheit, dass die Partei DIE LINKE für jene da sein sollte, die sich am unteren Ende der sozialen Hierarchien und der Einkommensstufen befinden. Ich glaube nicht, dass es für die Anerkennung einer solchen Selbstverständlichkeit große Auseinandersetzungen in der Partei braucht. Dennoch sollten wir immer wieder kontrollieren, ob wir diesem Anspruch auch gerecht werden, programmatisch und praktisch in unserem politischen Handeln. Dazu braucht es Kommunikation, Kommunikation mit jenen Schichten der Bevölkerung, für die wir uns erfolgreich und bei den Betroffenen auch verständlich einsetzen wollen. Freilich ist das gar nicht so einfach, wie man vielleicht denkt. Es genügt nicht unseren Anspruch zu formulieren und ihn ausführlich in geschliffener Sprache zu begründen. Wir müssen auch mit der Sprache derer umgehen können, die wir vertreten wollen. Das heißt nicht zu versuchen, so zu sprechen wie diese, sondern wir müssen lernen ihnen zuzuhören und zu verstehen, was sie sagen und vor allem wie sie es sagen.
Seit über 50 Jahren und wahrscheinlich auch schon länger ist dies in den Schriften zur Arbeiterbildung bekannt. Die hier gemeinten Menschen reden über ihre soziale Lage nicht in komplizierten, von detaillierter Analyse geprägten Texten, sondern – so nennt es Oskar Negt 1968 in seinem Buch Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen . Zur Theorie der Arbeiterbildung – in einer Sprache „impliziter Bedeutungen“. Dabei fassen Menschen ihre sozialen Erfahrungen in einfachen Äußerungen zusammen, denen aber ihre gesamte Erfahrungswelt zugrunde liegt. Sprechen sie zum Beispiel über Arbeitslosigkeit, so zergliedern sie ihre Erfahrung nicht in Ursache, Auswirkung und Auswegmöglichkeiten, sondern allein mit diesem Wort wird alles ausgesprochen, schwingt ihre gesamte Betroffenheit von Arbeitslosigkeit als Erleben, Angst, Widerstand und Bewältigung mit, ohne dies im Einzelnen auszubreiten. Ihre erlebte Stellung in der Gesellschaft bündelt sich oft in Aussagen wie: „Nützt ja alles nichts“. „Du weißt schon“. „Und? Wer wird es wieder bezahlen?“. „Die sind doch alle gleich“. „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“. Usw- usw. Solche Sätze greifen auf die Annahme gemeinsamer Erfahrung genau so zurück wie auf die Annahme daraus resultierender Solidarität. Es ist zugleich resignativ und aggressiv, hilflos und kampfbereit. Es ist getragen von Klasseninstinkt, geboren in Klassenerfahrung, nicht aber schon von Klassenbewusstsein. So sprechen die Menschen nicht als analysierende Vertreter*innen der Klasse, sondern als Betroffene der Klassengesellschaft. Fragt man nach, bekommt man deshalb höchst selten systematische Durchdringung der Lebenssituation und entsprechende Schlussfolgerungen. Es werden vielmehr Geschichten „aus dem Leben“ erzählt. Auf die kommt es aber an. Sie erzählen von der Klassenlage. In diesen Geschichten bekommen Menschen ihre Identität als Mitglieder einer Klasse. Die Klasse ist aber bereits eine höhere Abstraktion. Zuerst ist es das konkrete Leben, das prägt, das konkrete Leben von Kassierer*innen, Lagerarbeiter*innen, Migrant*innen, Juden und Jüdinnen, und vielen anderen mehr.
Die AfD nützt das geschickt. Sie erzählt die Geschichten undifferenziert weiter. Sie verwandelt dabei aggressive Hilflosigkeit in aggressive Frechheit. Freilich auch nicht mehr, erzielt dabei jedoch offensichtlich den Effekt, als welche wahrgenommen zu werden, die sich was trauen. Dass sie deshalb noch nichts können, ist nicht so wichtig. Am besten wirkt dieses analytische Vakuum verbunden mit pseudokämpferischem Anspruch, wenn man sich bis zu den Grenzen der Sprache des Faschismus vorwagt oder sie fallweise auch überschreitet. Das wirkt, ist freilich brandgefährlich und politischer Betrug an den Menschen, für die zu sprechen man vorgibt.

Einen anderen Betrug für das gleiche soziale Umfeld findet man bei der FDP: „Bei uns kann jeder alles werden, egal, wo er herkommt.“ Man könnte das ja als Vorgriff auf sozialistische Ideen der Chancengleichheit verstehen. Es ist aber etwas ganz anderes. Gerade bei Erstwähler*innen, die noch Träume vom künftigen Leben haben, bedient es diese Träume. Wie im Groschenroman eröffnet es eine angeblich realisierbare Wunschwelt des eigenen Willens. Dennoch ist es nichts anderes als eine Reproduktion der negativen Seiten jener „impliziten Bedeutungen“, in denen die Lebenserfahrungen zusammengefasst sind. Der Ausweg ähnelt dem Traum vom Lottogewinn, den man erreichen kann, wenn man nur oft genug spielt.
Unsere linke Aufgabe ist eine entgegengesetzte. Wir sollten nicht schlau und selbstgerecht und selbstverliebt versuchen, wie die einfachen Arbeiter*innen zu sprechen. Uns muss es vielmehr gelingen, aus ihren Geschichten, verständliche politische Programme und Projekte zu machen. Das braucht eben zuallererst genaues Zuhören. Unsere linke Aufgabe ist es, erst danach im neugierigen und geduldigen Gespräch, das sich in Teilhabe verwandelt, die Abstraktionsebene der Klasse so darzustellen, dass daraus auch das Gefühl der Betroffenheit entsteht, dass die Zugehörigkeit zur Klasse nicht vom eigenen Erleben getrennt wird, sondern vielmehr aus dem eigenen Erleben verständlich wird. So verhelfen wir wenig reflektierten Erlebniskomplexen zu einem politisch wirksamen Klassenbewusstsein.

Lernen wir das zu erlernen! Lernen wir Arbeiterbildung, nicht Arbeiterbelehrung!

12. Oktober 2021

Dialekt ist Dialekt, ist Dialekt …? Oder der fremde Peter, der charmante Peter, der arme Peter. Sprache und sozio-kulturelle Vorurteile.

Ich erzähle jetzt eine Geschichte, die ich vor langem erlebt und geschrieben habe. Sie soll ein durchaus vermaledeites Wirken einsprachiger Mehrsprachigkeit in unterschiedlichen kulturellen Kontexten schildern. Zur einsprachigen Mehrsprachigkeit gehören neben vielen anderen „Lekten“ auch und vor allem regionale Sprechweisen, die Regio- oder auch Dialekte. Es ist nämlich jeder Dialekt auch eine Sprache mit eigenem Wert.
Die Geschichte, die ich selber erlebt habe, nenne ich: „Der fremde, der charmante und der arme Peter – als Berliner, Wiener und Sachse“.

Mal angenommen man kommt nach längerem Aufenthalt noch gar nicht in Sachsen, sondern in Berlin zurück in seine Geburts- und immer noch Heimatstadt Wien und will sich eine Hose kaufen. Da kann man bereits eine Lektion praktische sozio-kulturlelen Einordnungspotential von Dialekten erhalten. Das Geschäft – nicht der Laden – in dem man es zunächst probiert, ist alteingesessen und heißt nach der Besitzerin „Sopherl“. Der Name bereits ein untrügliches Wiener Signal für das Lokale. Hosen werden vorgeführt, anprobiert, weggelegt, schließlich verworfen. Ein nicht ganz ungefährlicher Vorgang, denn die Sopherl ist „harb“. In Berlin würde man sagen, „rauh aber herzlich“. Spätestens der für Wiener Ohren fremd-sprachliche Fehler beim Abbruch des Einkaufsvorganges brachte diese Charaktereigenschaft mit nicht zu übertreffender sprachlicher Lakonie zum Ausdruck.

Ich sagte: „Schönen Dank, aber ich will noch anderswo „gucken“, was es gibt.“ „Gucken!?“ – Wie kann man nur in Wien?! Die Antwort war also entsprechend: „Na dann gehn‘s gucken. Da werden‘s schön schauen, was Sie seh‘n wern, Sie mit ihrem Gucken!“

Recht geschah mir und ich guckte doch tatsächlich dumm aus der Wäsche, bevor ich schön blöd schaute.

Die Sache mit Hose und Fremd-Dialekt war damit aber noch lange nicht ausgestanden.

Eine Hose wurde schließlich anderswo gekauft, nach Berlin mitgenommen und ein Jahr später dem Umzugsgut nach Sachsen beigefügt. Die Hose war schön und von guter Qualität. In Sachsen stand bald danach die Teilnahme an einer Jugendweihe an. Dazu bedurfte es der schönen Hose, die aber schon ein wenig gelitten hatte. Rechtzeitig in die Reinigung gebracht, sollte sie jedoch für den feierlichen Akt wieder in angemessenen Zustand versetzt werden. Die Reinigung in Leipzig arbeitete nicht sehr schnell. Zwanzig Arbeitstage waren – so erinnere ich mich – einzuplanen. Die Zeit reichte auf einen Tag genau aus. Ein Freitag war bei richtiger Zählung als Auslieferungstag genannt, was die Benutzung der Hose am Samstag sicherte. Am besagten Freitag wollte ich also die Hose abholen.

Hast‘e gedacht. Die Hose war noch nicht fertig – „frühestens in einer Woche“, erhielt ich Auskunft.

Mein ärgerlich aufgenommener Verweis auf den versprochenen Termin brachte „Betriebsgeheimnisse“ zutage. Man wäre eigentlich verpflichtet, die Hose tatsächlich in zwanzig Arbeitstagen zu reinigen, und dürfe auch keinen anderen Auslieferungstermin angeben, weil man sonst Ärger mit der zuständigen Behörde bekäme. In Wirklichkeit aber brauche man länger, weil die zur Verfügung stehenden Kapazitäten nichts anderes zuließen. Ein echter DDR-Spaß, aber zurück zum Thema. Man gab mir einen Rat und eine Telefonnummer. Ich sollte direkt im zuständigen Kombinat bei der Beschwerdestelle anrufen.

Gesagt, getan! Das Gespräch verlief durchaus freundlich, mit Bedauern für mein Problem, sehr viel mehr jedoch mit der Forderung, die Lage zu akzeptieren und selbst eine Lösung zu finden – bis zum Moment einer jähen Wendung. Wo ich denn die Hose gekauft hätte, fragte plötzlich die freundliche Frauenstimme, „bei uns oder anderswo?“

Nachdem ich zunächst meiner Verwunderung über diese Frage Ausdruck gegeben hatte, stellte ich die Dinge klar und nannte den Einkaufsort – – Wien. „Habe ich es mir doch gedacht“, meinte jetzt die Stimme noch eine Spur freundlicher, ja fast schon liebevoll-vertraulich. „Wegen dieses entzückenden Dialekts“, war die gleich hinzugefügte Begründung.

Und hast Du nicht gedacht, wurde mir die Hose noch am gleichen Nachmittag des Freitags(!!!) ins Haus geliefert.

Sage jetzt aber niemand, das „Sächsische“ sei gegenüber dem Wienerischen vielleicht wertlos. Das Gegenteil konnte ich erfahren und das ausgerechnet noch in Wien. Inzwischen DDR-Bürger geworden, beantragte ich eine Reise „in dringenden Familienangelegenheiten“ nach Wien. Die Mutter hatte Geburtstag. Vierzehn Tage wurden mir genehmigt und hundert Schilling als Taschengeld mitgegeben. Hundert Schilling, das waren vierzehn Deutsche Mark. Für jeden Tag eine Mark – ein bisschen wenig, eigentlich gar nichts. Um aus dem „Gar-Nichts“ mit etwas Glück doch eine brauchbare Summe zu machen, steuerte ich, kaum am Wiener Südbahnhof angekommen, ein Lokal mit Geldspielautomaten an.

Es fing gar-nicht so schlecht an. Die mitgebrachte Summe war schon mehr als verdoppelt, als sich die Pechsträhne langsam heranschlich. Erst fast unbemerkt und dann brutal, so dass nur ein Weiterspielen bis zum bitteren Ende die Hoffnung auf eine neuerliche Wende – und jetzt wieder zum Guten – aufrecht erhalten konnte. Die Hoffnung stirbt zwar zuletzt, aber sie stirbt eben auch. Nun dann eben ganz ohne Geld, dachte ich mir. Die Mutter musste für die zwei Wochen ohnehin aushelfen. Sie tat es ja sogar gerne. Da war kein Problem. Die Bahnkarte galt auch noch für die Straßenbahn. Da war ebenfalls kein Problem.

Ein anderes, unabweisliches meldete sich jedoch wie ein Blitz. Selbiger schlug nämlich durchs Gedärm und die Gewissheit mit einem dringenden Geschäft auf keinen Fall mehr so lange warten zu können, bis die rettende Wohnung der Mutter erreicht war, stellte sich ein mit Donner, der ja jeden Blitz unweigerlich begleitet. Was tun? (fragte schon Lenin)

Schön war die Klofrau nicht. Mit Charme war kaum etwas auszurichten. Was dann? „Gönn se misch manschemal umsonst uf de Doilette lassen? Isch muss ganz nödisch und habe geeen Geld“, versuchte ich mich panisch auf Sächsisch. „Ah, sie san a Saxe“, erkannte die gute Frau, „aus der DDR! Na ihr hobts jo nie a Göd. Na gehn‘s scho, bevor‘s in die Hosn scheißen.“ Signalisierte die Klofrau ihre Gnade vor Recht.

So weit so gut, aber aber was lernt uns das sagte mein Klassenlehrer immer? In Wien übrigens Klassenvorstand genannt.

Drei verschiedene regionale Sprachen bzw. Sprechweisen (Berlin, Wien, Sachsen) werden (einmal sogar schon nach einem Wort) gemeinsam mit dem Sprecher als Nachricht unterschiedlich verstanden und bewertet. Das geschieht in Abhängigkeit vom jeweiligen sozio-kulturellen und sprachkulturellen Hintergrund und führt zu unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich der sozio-kulturellen Einordnung des Sprechers: Er ist einmal unerfreulich fremd (Berliner bzw. Piefke in Wien), er ist charmant (Wiener in Sachsen), er ist arm (Sachse in Wien).

Zugleich sind in den jeweiligen Vorgängen Machtverhältnisse deutlich geworden: Einem Fremden verkauft hier niemand was, zumal, wenn er piefchinesisch spricht, einem Wiener Charmeur erfüllen wir auch unerfüllbare Wünsche, einem armen Sachsen helfen wir auch ohne Geld.

Ohne fremdkulturellen Hintergrund würde es nicht so funktionieren. Das „Eigene“ und das „Fremde“ stehen also in einem Wechselverhältnis, das die Kooperation spezifisch formt und gestaltet. Das kann unterschiedliche ausfallen; je nachdem, ob man Eigenes beurteilt oder Fremdes. Interkulturalität ist also in diesem Spannungsverhältnis unterschiedlicher Selektivität ausgesetzt.

Alles dem Erzählten zu Grunde Liegende gilt auch für „echte“ Einzelsprachen und den mit ihnen verbunden Kulturen.

Wir stellen fest:
Was Menschen über Sprachen denken, denken sie auch über deren Sprecher*innen

Kann sehr gefährlich werden