Ideen zu möglichen Perspektiven der Parteiendemokratie

Allem sei das geflügelte Wort vorangestellt, „Prognosen sind äußerst schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“ Als Quelle werden viele Persönlichkeiten genannt, niemand weiß genau, wer es war, wahr ist es dennoch, getraut haben es sich viele.

Seit den letzten Bundestagswahlen und sicher seit den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ist eine Veränderung in der Parteienlandschaft zu beobachten, die möglicherweise auch einen Blick in Varianten der Parteienentwicklung in der Zukunft ermöglicht. Das heißt nicht, dass es so kommen wird, wie sich mögliche Veränderungen andeuten. Wenn es aber so kommen könnte, sind Widerstand gegen und Beförderung von sich andeutender Entwicklung möglich.

Es ändert sich gegenüber der Zeit noch vor etwa dreißig Jahren und natürlich noch deutlich früher, der Charakter der mit Chancen wahlwerbenden Parteien. Es treten neue Parteien in die Konkurrenz ein und es schwinden die Erfolgschancen noch vor Kurzem erfolgreicher Parteien.

Der entscheidende Unterschied betrifft die jeweils erwünschten und zu erreichenden Wähler:innenklientele. Das hat mit grundsätzlichen Veränderungen in der sozialen Ausrichtung der Parteien zu tun. Waren noch für einige Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, in Österreich, aber auch noch in anderen europäischen Ländern die Parteien meist Milieu- oder Klassenparteien, so haben erfolgreiche Parteien sich zu sogenannten „Volksparteien“ entwickelt. Weber-Fas definiert in seinem „Das kleine Staatslexikon“ Volkspartei „als eine auf Wähler und Mitglieder in allen Bevölkerungsgruppen ausgerichtete politische Partei…“ Damit folgt er dem üblichen Verständnis von Volkspartei, das zwar das Volk als Ganzes als Staatsvolk voraussetzt, es aber in seiner Diversität von Problemsichten und Einstellungen für unterschiedliches Wahlverhalten zugänglich hält. Dies kann sehr verschiedene Ergebnisse zulassen.

Erstens, dass die angesprochenen Wähler:innen sich kaum noch primär aus ihrer gesamten und komplexen sozialen Lage heraus Parteien zuwenden. Sie sondern vielmehr aus einer Komplexität ihrer Lebenswirklichkeit einzelne Faktoren aus, die für ihre Wahlentscheidung prägend sind. Solcher Art begründete Entscheidungen, bleiben dann selten von Dauer. Sie betreffen mit ihren Erwartungen die Zeit einer oder zweier Wahlperioden und führen deshalb weg von Stammwählerschaften hin zu wechselndem Wahlverhalten. Diese Parteien bieten zwar etwas an, das tagesaktuell oder kurzfristig wichtig erscheint, haltbare und langfristige Ziele gesellschaftlicher Entwicklung bieten sie nicht. Es fehlt ihnen eine Utopie.

Zweitens können die unterschiedlichen Parteien in ihrem Streben nach wirkmächtigen Mehrheiten die Diversitäten so weit polarisieren, dass dies politische Kooperation verhindert. Der daraus entstehende Parteienstreit verliert jegliche Produktivität für eine Ausrichtung an gesamtstaatlichen Notwendigkeiten und stößt am Ende viele Wählergruppen ab. Daraus können andere Volksparteien entstehen oder andere Parteitypen gewinnen (wieder) an Bedeutung: Weber-Fas nennt unter anderem Programm- oder Plattformparteien, die auf kurzfristige Wählerwirksamkeit spekulieren oder bestimmte Werte zu verwirklichen suchen. Die Halbwertszeit solcher Parteien ist meist gering. Das alles trägt jedoch zur Zersplitterung der Parteienlandschaft bei, der in der Wahrnehmung der Wähler:innen Potentiale zur Zusammenarbeit für einvernehmliche und längerfristige Regierungsarbeit verloren gehen.

Drittens führt deshalb das Dilemma der Volksparteien zu einem zunächst möglichst populistischen Agieren der Volksparteien. Sie folgen, ansonsten prinzipienlos, Stimmungen mit oft auch demagogischer Politik, die nicht mehr die Chancen in der Diversität des Wahlvolkes sucht, sondern an die Übereinstimmungen im gesamten Volk appelliert, denen politisch Geltung zu verschaffen sei. Das sind oft Ängste oder vorgetäuschte Problemlagen. Konsequent zu Ende gedacht, entstehen „völkisch“ orientierte, nationalistische, rechtsextreme, (neo)faschistische Parteien, die dem nationalen Vorteil, der positiven Bewertung aller nationaler Eigenheiten und der Ablehnung des Fremden als Leitprinzipien folgen. Sie dulden letztendlich keine anderen Parteien neben sich, weil es für sie wegen der angenommenen und propagierten Einheit(lichkeit) des Volkswillens keine braucht. Der Weg führt zwangsläufig von der Demokratie zur Diktatur, die sich – wie aktuell oft zu beobachten ist – als „autoritäre Wende“ in der Führung von Volksparteien anschleicht. Auch wenn aus opportunistischen Gründen solche Parteien zeitweilig als Friedensparteien auftreten, steckt in ihnen der unabweisbare Drang eines jeden nationalistischen Durchsetzungswillens zu Gewalt und schließlich Krieg. Weil man auf diesem Feld nicht verlieren will, gibt man sich oft kooperationsbereit sowie friedenswillig, was sofort aufgekündigt wird, wenn man die Chance des „Sieges“ sieht. Sucht man bei diesen Parteien eine Utopie, so verendet diese in der Apokalypse; allerdings nicht für nationales Kapital, sondern für die Völker. Das macht sie objektiv zu Klassenparteien nationalen Kapitals.

Solche Parteien müssen zwar nicht das Ende der Parteiendemokratie bedeuten, obwohl deren Chancen deutlich minimiert werden und zeitweilig auch gegen Null gehen können. Die Hoffnung liegt im (mehrheitlichen) Widerspruch zu ihnen und im Widerspruch zu sich gegensätzlich gegenüberstehenden Klassenparteien. Freilich sind deren Möglichkeiten momentan schon durch die Existenz von Volksparteien deutlich geschrumpft bis fast verschwunden. Das hat Gründe, denen nachzugehen lohnt.

Fangen wir bei der FDP, der Klassenpartei des Kapitals, an. Ihrem dramatischen Verschwinden bei den letzten Landtagswahlen ging eine Entwicklung voraus, die für die Parteigänger:innen der FDP sogar eher erfreulich sein könnte. Ihr eigentliches Ziel ist ja die Transformation der ökonomischen Macht des Kapitals in gesellschaftliche Macht. So lange es dazu politische Gegenmacht gibt, die das verhindern will und wenigstens tendenziell auch kann (zum Beispiel unverkennbare Arbeiterparteien oder eben konkurrenzfähige Volksparteien), braucht Kapitalismus diese Partei auf dem Feld politischer Auseinandersetzung. Das Ziel der Verwandlung ökonomischer Macht in gesellschaftliche mit politischen Mitteln erreicht Kapital jedoch am besten, wenn politische Macht ökonomischer Macht überlassen wird. Hauptinstrument dafür ist aktuell die Übertragung von öffentlichem Eigentum und öffentlich regulierten Einrichtungen insbesondere der Daseinsvorsorge jeglicher Art in private Hände. Erscheint ein solcher Prozess ausreichend fortgeschritten ziehen sich Wähler:innen von der Kapital(isten)-Partei zurück. Sie sehen den „höheren Zweck“ erfüllt und brauchen diese Partei nicht mehr; auch deshalb nicht, weil diese Partei dann auch ihre inneren Widersprüche, die durch national, regional und global unterschiedliche Kapitalinteressen entstehen, nicht mehr bewältigen kann. Dafür sind Volksparteien besser geeignet, weil sich diese Interessenkonflikte einerseits in der Diversität des Volkes abbilden und sich zugleich um des Erfolges Willen an die Tendenz zur Kapitalisierung von Demokratie anhängen. „Völkische“ Parteien wiederum verschleiern diese Konflikte mit der nationalistischen Tarnkappe und nehmen sie so aus durchschaubarer Politik heraus. Aus der vorgeblich „national, sozialistischen, Arbeiterpartei“ wird zum Beispiel bei der FPÖ in der Agitation die „soziale Heimatpartei“. Wo ist der Unterschied außer in der „entnazifizierten“ Sprache?

Aus der Sicht wünschenswerter Demokratieentwicklung werden Klassenparteien wie die FDP sogar gebraucht. Sie stellen immerhin Kapitalinteressen in politischen Auseinandersetzungen zur Disposition. Allerdings kann das nur Funktionieren, wenn es eine eindeutig an gegensätzlichen Klasseninteressen ausgerichtete politische Gegnerschaft im Parteienspektrum gibt. Das käme zwar einer Partei wie DIE LINKE oder anderen ähnlich ausgerichteten zu, wird jedoch unter unterschiedlichen Aspekten immer wieder in diesen Parteien selbst aufgeweicht. Deshalb stellen sich für diese Parteien die Fragen der Demokratie, der möglichen Kompromisse und des Verhältnisses zum Nationalen. Die klassenspezifische Klärung dieser Fragen ist ständige Aufgabe linker Parteien. Allein so können sie ihre gesellschaftliche Notwendigkeit beweisen, aufrecht erhalten und gesellschaftliches Verhalten beeinflussen.

Hier will ich mich nur an die „Klassenspezifik“ heranwagen. Ihr wohnt der Wunsch nach grundsätzlicher Veränderung der Gesellschaftsstruktur inne. Das meint wesentlich die Verhältnisse des Besitzes von und der Verfügbarkeit über Produktionsmittel. Davon abhängig sind kurz gesagt die Möglichkeiten der Anteilnahme an ökonomischer und politischer Macht. Vom gegenwärtigen Rahmen politischer und soziostruktureller Realitäten ausgehend ergeben sich Möglichkeiten und Aufgaben für eine linke Klassenpartei, die ihr Wirken in der Zukunft bestimmen sollten. Das Erste ist dabei ein offenes und aufgeschlüsseltes Bekenntnis zu den genannten Prinzipien. Das Zweite ist die Umsetzung in aktuelle und langfristig angelegte Politik. Drittens darf dabei der Boden demokratischer Willensbildung und der Durchsetzung des Ergebnisses nicht verlassen werden. Demokratie ist Ziel und Mittel und wird dadurch auch ständig Gegenstand von politischer Auseinandersetzung. Debatten um Demokratie behandeln also auch in jeder Einzelheit immer strategische Fragen. Demokratie muss Systemopposition ermöglichen, im Wunsch nach Veränderung auch soziostrukturelle Gegebenheiten und Besitzverhältnisse betreffen dürfen und diskursive Teilhabe von Vermögens- und aktuellen Machtvorteilen befreien. Das steht natürlich im Gegensatz zu Volksparteien, denen Taktik zur Gewinnung von Mehrheiten, anstatt Strategie zu weiteren Gestaltung von Gesellschaft zumindest Mittel, wohl aber auch dominantes Ziel ist. Es steht aber noch mehr im Gegensatz zu rechtsextremistischen, faschistoiden und faschistischen Parteien, die durchaus strategische Ziele haben und Demokratie als Mittel zum Erreichen des Ziels der Abschaffung von Demokratie missbrauchen wollen.

Ein von Volksparteien beherrschtes demokratisches System hat trotz deutlicher Erosionserscheinungen bis heute ziemliche Macht und Stärke. Etwa 70% der Wähler:innen nutzen es, um politischen Willen auszudrücken, und das ist gut so, denn es macht diese Parteien zu Bündnispartnerinnen im Kampf gegen Rechts. Das ist die eine Seite der Medaille. Volksparteien sind aber auf Grund ihres Wesens auch immer offen für Wege nach rechts, wenn sich entsprechende Stimmungen im Wahlvolk durchsetzen. Die „Brandmauern“ gegen rechts und allem was dazugehört sichern deshalb nicht Volksparteien, sondern sie aufzurichten und aufrecht zu erhalten, ist Aufgabe einer linken Klassenpartei. Hierin ist das Urteil über mögliche Kompromisse mit Volksparteien und deren Grenzen aufgehoben. Linker Blick auf die Gesellschaft muss immer ein Blick von „unten“ sein. Die Interessen, die dieser Perspektive die Richtung geben, können nur die der lohnabhängigen, nur die Ware Arbeitskraft besitzenden und zu deren Verkauf gezwungenen Bevölkerungsteile sein. Weil diesen imperiale Interessen fremd sind und sie auch in überschaubaren Zeiten keine objektiven Interessen an Kriegen haben können, kann eine linke Partei anders als alle anderen Parteien nur eine Friedenspartei sein. Das heißt auch, für die Erreichung von Frieden in einer Welt, die Kriege nicht ausschließt, nur friedliche Mittel einzufordern. Nichts anderes, als dass linken Parteien Nationalismus, Bellizismus naturgemäß fremd sein muss und an die Klasse gebundener Internationalismus ihre Grundidee ist, ist bereits im „Gründungsdokument“ aller linken Parteien, dem „Kommunistischem Manifest“ herausgearbeitet.

Damit bei allem der Wunsch nicht nur Vater des Gedankens bleibt, müssen linke Parteien, Mitgliederparteien „neuen Typs“ werden. Das heißt, sie sind das nicht allein wegen der hohen Zahl ihrer Mitglieder. Diese Mitglieder müssen auch permanent ihre Souveränität gegenüber dem Parteiapparat ausspielen können. Das zu organisieren und abzusichern, ist zwar ein ausgebauter Parteiapparat nötig, zugleich aber braucht es eine innerparteiliche Kommunikation, die die Mitgliedschaft nicht nur in zeitlichen Rhythmen (Parteitage) und durch Delegierte einbezieht, sondern auch jederzeit die Parteipolitik durch Einbeziehung aller Mitglieder bestimmen lässt. Permanente Versammlungsmöglichkeiten stützen das. Es bedarf jedoch auch einer dauernd wirksamen Bildungstätigkeit, die zu kollektiver Erarbeitung von Problemanalysen und Lösungsansätzen befähigt, diese verbindlich hervorbringt und so Subjektivismus in der Partei zurückdrängt.

Nicht zuletzt brauchen wir dringend eine Verbesserung der Kommunikation mit der Bevölkerung. Diese kann aus den Veränderungen der innerparteilichen Kommunikation entstehen, andererseits letztere rückwirkend ebenfalls qualifizieren. Es besteht ein enger Zusammenhang. Für eine neue Qualität reichen keine veröffentlichten Presserklärungen mehr, noch reichen originelle Plakate oder prominente Kandidat:innen. Es muss darüber hinaus leichte und schnelle Zugänge zum Einzelgespräche mit Verantwortungsträger:innen der Partei geben. Zwanglosigkeit ist der Formalisierung und Bürokratisierung solcher Gespräche der Vorzug zu geben. Der Umgang mit den Gesprächsergebnissen ist für die Teilnehmer:innen zu dokumentieren. Das macht ausgebautes ehrenamtliches Engagement vor Ort nötig, was zugleich den innerparteilichen Einfluss der Basis stärkt.

Ohne verbindliche Einbeziehung der Mitglieder und ihre Aktivierung für Parteiarbeit würde die Partei verkümmern und schließlich verschwinden.